Stimmenvielfalt muss man sich auch leisten können.
21. Oktober 2024Die IHK zu Leipzig wird durch die ehrenamtlich eingebrachte Expertise von 14 Ausschüssen unterstützt. Diese laden sich in Abständen wiederum externes Expertenwissen ein, um davon zu partizipieren. Beim Ausschuss für Medien, IT und Kreativwirtschaft beispielsweise war Andreas Lamm zu Gast. Der Interim Managing Director beim European Centre for Press and Media Freedom (ECPMF) spricht im Interview über das Presserecht, die Medienfreiheit in Europa und Deutschland und die Möglichkeit, Verstöße gegen die Presse- und Medienfreiheit zu melden.
WIRTSCHAFT ONLINE: Guten Tag, Herr Andreas Lamm. Sie sind Interim Managing Director beim European Centre for Press and Media Freedom (ECPMF). Aufgrund dieser Position waren Sie vor kurzem Gast in unserem Ausschuss für Medien, IT und Kreativwirtschaft und stellten dort die Arbeit des ECPMF vor. Welche Aspekte der Arbeit des Zentrums berühren denn hiesige Medienschaffende direkt?
Andreas Lamm: Seit 2015 erhebt das ECPMF Daten zu physischen Übergriffen auf Medienschaffende in Deutschland. Leider ist Sachsen in diesem Punkt unrühmlicher Spitzenreiter. Meist finden die Angriffe auf Journalist:innen bei Demonstrationen statt. Bei der Erhebung der Fälle kommen wir mit den Medienschaffenden direkt ins Gespräch und wurden auf zwei Phänomene aufmerksam: die prekäre Arbeitssituation von freien Journalist:innen und die zunehmende Selbstzensur besonders im Lokaljournalismus.
Unsere Studie „Feindbild Journalist:in 8” hat aufgezeigt, dass besonders freie Journalist:innen bei Demonstrationen bedroht und angegriffen werden. Von insgesamt 96 Übergriffen erfolgten 41 auf freie Medienschaffende. In der Zwischenzeit gibt es Redaktionen, die ihr Team nur noch mit Personenschutz auf Demonstrationen schicken, ein Luxus, den sich freie Journalist:innen nicht leisten können. Besonders gefährdet sind Medienschaffende, die durch Kamera und/oder Mikrofon leicht zu identifizieren sind oder persönlich bei Akteuren der Demonstration bekannt sind, da sie regelmäßig über sie berichten.
Das Risiko, auf einer Demonstration angegriffen zu werden, war besonders hoch bei pro-palästinensischen Demonstrationen und Demonstrationen im rechten Umfeld.
Die Selbstzensur im Lokaljournalismus ist ein weiterer besorgniserregender Faktor, der besonders durch die Nähe in der lokalen Berichterstattung ausgelöst wird. So berichten Journalist:innen, dass sie sich persönlich durch lokale Akteure bedroht fühlen, da sie in der gleichen Nachbarschaft leben und gezielt als Feindbild in der öffentlichen Kommunikation angesprochen werden. Es ist vielleicht nicht der Stadtrat selber, der die Journalist:innen angreift, sondern eher jene, die sich durch verbale Angriffe dazu ermutigt fühlen und dann zum Beispiel das Auto der Journalist:innen beschädigen. Mit der Zunahme dieser Bedrohung kommt es dazu, dass über verschiedene Themen im Lokalen nicht berichtet wird.
Was an diesen beiden Bedrohungen so erschreckend ist, sie führen zunehmend zu einer Einschränkung der Berichterstattung im Lokalen und so zu einem Verlust der Stimmenvielfalt. Es entstehen weiße Flecken in der Berichterstattung, die durch andere Akteure besetzt werden.
WIRTSCHAFT ONLINE: Sie fördern die Medienfreiheit in ganz Europa. Nun steht auch Deutschland, welches sich ja gern als Schulmeister geniert, beim Thema Pressefreiheit nicht wirklich an der Spitze, mit Platz 10 im weltweiten Ranking eher bei „Vielleicht können wir von anderen Ländern noch etwas lernen?“. Was kann unser Land von Ländern wie Norwegen oder Portugal, Irland oder der Schweiz lernen?
Andreas Lamm: Das Monitoring, welches das ECPMF durchführt, erstellt bewusst kein Ranking, das liegt daran, dass die Erhebung der Daten in allen Ländern verschieden ist und auch das Bewusstsein unter Journalist:innen, was eine Pressefreiheitsverletzung ist und was nicht, variiert sehr von Land zu Land und den regionalen Gegebenheiten. In Deutschland besteht ein sehr flächendeckendes Monitoring und somit kann ein aktuelles Bild der Übergriffe auf Medienschaffende dokumentiert werden. Nicht zuletzt durch die Arbeit des ECPMF berichten auch die Betroffenen direkt über Übergriffe und nehmen sie nicht mehr als Teil ihrer Arbeitsrealität wahr. Das hilft besonders, Schutzkonzepte und Unterstützungsangebote zu erstellen. Darüber hinaus ist die öffentliche Debatte wichtig, um die Rahmenbedingungen für unabhängigen Journalismus zu stärken.
Generell lässt sich aber sagen, je mehr der Journalismus als zentraler Bestandteil einer funktionierenden Demokratie gesehen wird, desto besser ist auch das „Ranking”. Das sieht man an Faktoren, wie finanzielle und redaktionelle Unabhängigkeit. Länder, die einen großen Wert auf unabhängigen und freien Journalismus legen und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dafür schaffen, stehen im Vergleich mit anderen Ländern meist besser da.
WIRTSCHAFT ONLINE: Das ECMPF nimmt auch Verstöße gegen die Presse- und Medienfreiheit entgegen. Was geschieht jedoch mit diesen Meldungen?
Andreas Lamm: Alle Pressefreiheitsverletzungen, die uns gemeldet werden, oder die wir durch unser Monitoringnetzwerk erfassen, werden verifiziert und mit anderen unabhängigen Quellen abgeglichen. Erst dann werden die Angriffe auf Presse- und Medienfreiheit auf der Monitoringplattform „Mapping Media Freedom” (mapmf.eu) veröffentlicht.
Je nach Fall treten wir mit den betroffenen Journalist:innen oder Redaktionen in Kontakt und bieten Hilfe an. Die angebotene Unterstützung reicht von Residence-Plätzen, psychischer Unterstützung, Technikersatz bis hin zu Trainings im Bereich digitale Sicherheit. Alle Angebote sind individuell auf die betroffenen Personen zugeschnitten.
Die gesammelten Daten dienen dem ECPMF auch, um seine inhaltliche Arbeit auszurichten und auf unterschiedliche Bedrohungen hinzuweisen. So werden die Daten genutzt, um mit Politiker:innen, Verlagen und Medienanstalten ins Gespräch zu kommen. Das Ziel ist, die Rahmenbedingungen für die Journalist:innen zu verbessern.
WIRTSCHAFT ONLINE: Das Handeln, auch vieler Medienschaffender, ist gefühlsgeprägt. Selten kommt die wirkliche Rechtslage in Gesprächen und Äußerungen zu Missständen zum Tragen. Wie ist denn die Rechtslage? Was ist denn wirklich ein Verstoß gegen die Presse- und Medienfreiheit? Wo beginnt der Verstoß und was ist von der Meinungsfreiheit gedeckt?
Andreas Lamm: Die Anzahl von Medienfreiheitsverletzungen ist vielfältig. Sie beinhalten nicht nur physische Übergriffe, sondern auch Zensur, Verhinderung des Zuganges zu Informationen, Onlinebeschimpfungen, Cyberattacken, um nur einige zu nennen. Für dieser Punkte gibt es gesetzliche Grundlagen, die nicht nur für Journalist:innen gelten, sondern für alle Bürger. Es wird zur Pressefreiheitsverletzung, wenn Rechte eingeschränkt werden, um die Stimmen der Journalist:innen verstummen zu lassen.
WIRTSCHAFT ONLINE: Und was ist mit den Grauzonen?
Andreas Lamm: Wichtig ist, keine Grauzone entstehen zu lassen, dazu dient das systematische Monitoring, welches nicht nur den einzelnen Fall einer Pressefreiheitsverletzung dokumentiert, sondern auch alle beteiligten Akteure identifiziert und in einen Kontext einordnet.
WIRTSCHAFT ONLINE: Das ECPMF betreibt diverse Projekte – hier etwa Voices of Ukraine, Medienfreiheit in Sachsen oder IJ4EU. Können Sie uns bitte etwas zu den Projekten erzählen?
Andreas Lamm: Die Arbeit des ECPMF ist immer aus den drei Komponenten Monitoring, Unterstützung und Kommunikation aufgebaut. Das wird am deutlichsten im Media Freedom Rapid Response (MFRR), das alle Aktivitäten zusammenführt und ein Schutzmechanismus für alle EU Mitglieds- und Beitrittskandidatenländer ist. Das Projekt Voices of Ukraine ist ein Schutzprogramm für ukrainische Journalist:innen, die in besetzten Gebieten und im Frontbereich arbeiten. Es bietet vielfältige Unterstützungsangebote an, wie ein Stipendienprogramm, ein Residence-Programm (Journalists-in-Residence Kosovo), Technik Support, Lebensversicherung, um die Arbeit an der Front zu ermöglichen, sowie ein umfangreiches Trainingsprogramm. Ein besonderer Schwerpunkt wird innerhalb des Projekts auf Journalistinnen gelegt, die unter besonderen Herausforderungen in der Ukraine ihrer Arbeit nachgehen. Das Voices of Ukraine Programm ist Teil der Hannah-Arendt-Initiativer, einem Netzwerk zivilgesellschaftlicher Organisationen, das auf Initiative und mit Mitteln des Auswärtigen Amtes und der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gegründet wurde, um gefährdete Journalist:innen weltweit bei ihrer wichtigen Arbeit zu schützen und zu unterstützen.
Im Rahmen des Investigative Journalism for Europe (IJ4EU) Projekt werden grenzüberschreitende investigative Recherchen unterstützt. Einige bekannte Beispiele sind das Pegasus Projekt, Lost in Europe und Border Grave Investigations.
Medienfreiheit in Sachsen ermöglicht zum großen Teil die Monitoring-Arbeit in Sachsen und Deutschland, welche Grundlage für die jährlich erscheinende Studie Feindbild Journalist:in ist.
Darüber hinaus unterstützt das ECPMF bedrohte Medienschaffende mit weiteren Programmen wie dem Legal Support, Journalists-in-Residence- und Journalists-in-Exile-Programm.
WIRTSCHAFT ONLINE: Ein funktionierender, sicherer und differenzierter Medienpark ist unbenommen ein Standortvorteil für Wirtschaftstreibende. Gerade die Verlässlichkeit ist wichtig. Wie sieht es hier in unserer Region, Ihrer Meinung nach, aus?
Andreas Lamm: Für einen funktionierenden, sicheren und differenzierten Medienmarkt ist ein gesunder Mix aus privaten Medien und öffentlichem Rundfunk von essenzieller Bedeutung. Rahmenbedingungen, die im Medienstaatsvertrag geregelt sind. Problematisch sehen wir, dass die Zahl der Akteure im Medienmarkt immer geringer wird, was zum Verlust der Stimmenvielfalt führt. Jüngstes Beispiel in Sachsen ist die Übernahme der Sächsischen Zeitung durch die Madsack-Gruppe, zu der unter anderem die Leipziger Volkszeitung, die Dresdner Neuesten Nachrichten und die Hannoversche Allgemeine gehören. Mit dem Verlust der Vielzahl von Medien werden auch die Meinungsbilder in der Gesellschaft geringer und nicht zu Unrecht entsteht das Gefühl, die Meinung der Medien ist immer die Gleiche.
Besonders im Lokalen kommen noch persönliche Bedrohungen hinzu, über die wir bereits sprachen und die zur Einschränkung der Berichterstattung führen.
Besonders kleine und lokale Medien leiden unter dem Wegfall von Werbeeinnahmen und einer immer kleiner werdenden Leserschaft. Unternehmen schalten ihre Anzeigen bei Facebook und Co., Leser:innen sind durch die vielen kostenlosen Inhalte nicht mehr bereit, für Nachrichten zu bezahlen. Das führt dazu, dass sich der Journalismus vor Ort nicht mehr finanzieren kann.
Es braucht ein Umdenken der Leser:innen, aber auch der Unternehmen, damit wir uns auch in Zukunft eine Stimmenvielfalt leisten können. Wenn dieses Umdenken nicht bald stattfindet, werden die entstehenden weißen Flächen in der Berichterstattung durch andere Akteure besetzt und Desinformation und Falschnachrichten werden unsere Realität bestimmen.
WIRTSCHAFT ONLINE: In Ihrem Gastbeitrag im Ausschuss für Medien, IT und Kreativwirtschaft der IHK zu Leipzig kamen Sie auch auf SLAPP-Herausforderungen zu sprechen. Was ist SLAPP? Wie kann SLAPP-Herausforderungen begegnet werden?
Andreas Lamm: SLAPPs (Strategic Lawsuits Against Public Participation) sind missbräuchliche und haltlose Klagen, die gezielt gegen Journalist:innen, Aktivist:innen, Wissenschaftler:innen und andere Personen gerichtet sind, die sich öffentlich zu kontroversen Themen äußern. Das Hauptziel solcher Klagen besteht darin, die Betroffenen durch langwierige Gerichtsverfahren, hohe finanzielle Belastungen und die Drohung mit strafrechtlichen Konsequenzen einzuschüchtern und somit zum Schweigen zu bringen. Dabei geht es nicht um eine inhaltliche Klärung, sondern um Machtausübung und die Unterdrückung der Meinungsfreiheit sowie des öffentlichen Diskurses. Gleichzeitig sollen SLAPPs abschreckend wirken und andere davon abhalten, Kritik zu äußern, wodurch die Diskussion bestimmter Themen unterbunden wird.
Das SLAPPs kein Einzelphänomen sind, zeigt das Beispiel der ehrenamtlichen Leipziger Hochschulzeitung Luhze. Im Dezember 2021 wurde Luhze verklagt, da sie über die unseriösen Praktiken der Immobilienfirma United Capital RE GmbH im Umgang mit ihren Mietern berichteten. Per einstweiliger Verfügung wollte die Immobilienfirma erreichen, dass die Zeitung Passagen mit Zitaten von Mietern aus dem Text streicht. Erst in letzter Minute vor dem Gerichtstermin und unter Druck der Öffentlichkeit zog die Immobilienfirma ihre Klage zurück.
Mit dem Legal Support Programm ist das ECPMF in der Lage, Medienschaffende zu unterstützen, die verklagt werden, um sie an der weiteren Arbeit zu hindern.
WIRTSCHAFT ONLINE: Das ECPMF gibt es seit fast zehn Jahren in Leipzig. Wie wirksam ist Ihre Arbeit gewesen? Was konnten Sie ausrichten?
Andreas Lamm: 2015 wurde das ECPMF gegründet und war eine der ersten gemeinnützigen Europäischen Genossenschaften. In den zurückliegenden Jahren konnte eine Europäische Organisation mit Sitz in Leipzig, Sachsen aufgebaut werden. Die Stadt, in der während der Friedlichen Revolution 1989 der Ruf nach Presse- und Medienfreiheit am lautesten war.
Dem ECPMF gelang es, einen Europäischen Schutzmechanismus für Medienschaffende zu entwickeln. Das Zentrum war beteiligt an europäischen Gesetzgebungsprozessen, wie der Anti-SLAPP Direktive und dem European Media Freedom Act (EMFA). Mit dem Journalists-in-Residence-Programm konnte ein nachhaltiges Schutzprogramm für Medienschaffenden aufgebaut werden. Dieses gilt in der Zwischenzeit als ein Vorbild für Schutzprogramme anderer internationalen Organisationen im Bereich von Presse- und Medienfreiheit. Auf der Monitoring-Plattform werden wir dieses Jahr den traurigen Rekord von 10.000 Pressefreiheitsverletzungen erfassen. In den zurückliegenden Jahren wurden mehr als 2.500 individuelle Medienschaffende unterstützt. Es ist aber nicht die Zahl der Unterstützten, die uns motiviert, sondern jeder einzelne Journalist:in und den Unterschied, den wir mit unserer Unterstützung machen.
Bei Fragen hilft Ihnen Marcus Schulze gerne weiter.
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