Sabine Krüger und Ulla Materne
Gespräch mit Sabine Krüger und Ulla Materne

Barrierefreiheit! Für wen? Weshalb und wie?

02. Oktober 2024

Im Jahr 2025 wird die digitale Barrierefreiheit in Deutschland durch das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) auf Teile der Privatwirtschaft ausgeweitet. Da stellen sich natürlich Fragen, welche von kompetenter Seite her beantwortet gehören. Die Leiterin der Überwachungsstelle für Barrierefreiheit von Informationstechnik im Freistaat Sachsen (BfIT Sachsen) Sabine Krüger und Ulla Materne, zuständig für Inklusives Publizieren an derselben Institution, beantworten deshalb in der WIRTSCHAFT ONLINE unsere Fragen zu den gesetzlichen Hintergründen der Barrieriefreiheit, zur „Leichten Sprache“, zu Barrierefreiheits-Prüfungen und Angeboten für Unternehmen. 

WIRTSCHAFT ONLINE: Guten Tag, Frau Sabine Krüger, Sie sind am Deutschen Zentrum für barrierefreies Lesen (dzb lesen) die Leiterin der Überwachungsstelle für die Barrierefreiheit von Web-Seiten und mobilen Anwendungen in Sachsen. Für welche Gruppen ist die Barrierefreiheit existenziell? 

Sabine Krüger: Digitale Barrierefreiheit kommt einer Vielzahl von Gruppen zugute, wenn nicht sogar uns allen. So erleichtert beispielsweise eine klar strukturierte Webseite mit kontrastreichen Farben den Zugang zu den Informationen. Grundsätzlich lassen sich vier Hauptgruppen nennen. Dies wären Menschen mit Einschränkungen im Sehen, Hören, Bewegen und Verstehen. Dazu gehören nicht nur Menschen mit dauerhaften körperlichen oder sensorischen Einschränkungen, sondern auch Menschen mit vorübergehenden Einschränkungen (etwa gebrochener Arm) oder ältere Menschen, deren Seh- und Hörvermögen altersbedingt nachlässt. 

WIRTSCHAFT ONLINE: Welche rechtlichen Grundlagen formulieren die Barrierefreiheit? 

Sabine Krüger: In Deutschland bilden mehrere rechtliche Grundlagen die Basis für Barrierefreiheit, sowohl allgemein als auch speziell im digitalen Bereich. Ihren Ursprung hat die aktuelle Gesetzgebung in der UN-Behindertenrechtskonvention. Dem wurde auf EU-Ebene mit den EU-Richtlinien 2016/2102 und 2019/882 sowie diversen Durchführungsbeschlüssen Rechnung getragen. Auf nationaler Ebene wäre das Grundgesetz (Artikel 3 Absatz 3 Satz 2), das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG), die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0) sowie das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) zu nennen. In Sachsen bilden zum Beispiel das 2019 in Kraft getretene Barrierefreie-Webseiten-Gesetz (BfWebG) und die dazugehörige Barrierefreie-Webseiten-Verordnung (BfWebVO) aus dem Jahr 2021 die Grundlage für digitale Barrierefreiheit. Diese verpflichten öffentliche Stellen dazu, ihre Webseiten und mobilen Anwendungen barrierefrei zugänglich zu machen. 

WIRTSCHAFT ONLINE: Gibt es eine Art Checkliste zum Thema Barrierefreiheit? 

Sabine Krüger: Es gibt leider keine allgemeingültige Checkliste für Barrierefreiheit, da die Anforderungen je nach Kontext unterschiedlich sind. Im Bereich der digitalen Barrierefreiheit sind die Prüfkriterien der EN 301 549 maßgeblich. Als Einstieg für barrierefreie Webseiten kann die BITV-Selbstbewertung hilfreich sein. Darüber hinaus bieten verschiedene Institutionen und Organisationen Leitfäden und Publikationen an. Ein Beispiel hierfür ist die Überwachungsstelle des Bundes, die auf ihrer Website eine Reihe von Publikationen zum Thema digitale Barrierefreiheit bereitstellt. 

WIRTSCHAFT ONLINE: Ab 2025 gibt es dann auch die digitale Barrierefreiheit nach Gesetz. Was heißt das konkret? 

Sabine Krüger: Grundsätzlich ist zu sagen, dass digitale Barrierefreiheit für öffentliche Stellen mit dem BfWebG bereits seit 2019 gesetzlich verankert ist. Im Jahr 2025 wird die digitale Barrierefreiheit in Deutschland jedoch durch das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) auf Teile der Privatwirtschaft ausgeweitet. Mit dem BFSG wird der European Accessibility Act (EAA) in nationales Recht überführt. Der EAA ist eine Richtlinie der Europäischen Union, die die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen in der gesamten EU regelt. 

WIRTSCHAFT ONLINE: Wie läuft eigentlich das Prozedere bei einer Barrierefreiheit-Prüfung ab? 

Sabine Krüger: Das kann nur für die derzeitige Situation für öffentliche Stellen beschrieben werden. Für die Überwachung wird jährlich eine Stichprobe mit festgelegter Anzahl von zu überwachenden Webseiten und Apps gezogen. Öffentliche Stellen erhalten eine Prüfankündigung, auf die sie innerhalb einer Frist mögliche Einwände darlegen können. Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Prüfankündigung stellt keinen Antrag auf Prüfung dar, der von der öffentlichen Stelle explizit genehmigt werden muss. Schließlich soll die Überprüfung die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen sicherstellen. 

Die Prüfung erfolgt entweder umfassend nach allen relevanten Prüfkriterien der EN 301 549 (eingehende Überwachung) oder selektiv nach ausgewählten Kriterien, die sicherstellen, dass Nutzende mit unterschiedlichen Bedürfnissen berücksichtigt werden (vereinfachte Überwachung). Gegenstand der Prüfung sind, unabhängig von der Art der Überwachung, nur ausgewählte Seiten des Webangebots (Startseite, Kontaktseite, Suche etc.). Das Ergebnis wird den öffentlichen Stellen in Form eines Prüfberichts mitgeteilt, der, soweit möglich, auch Hinweise zur Behebung der festgestellten Mängel enthält. 

WIRTSCHAFT ONLINE: Auch die Sprache sollte allgemein verständlich sein, womit wir auch gleich beim Thema „Leichte Sprache“ wären. Gibt es hier Regeln und wo findet man die? Und was ist eigentlich so schwer an Leichter Sprache? 

Sabine Krüger: Informationen, welche Inhalte am ehesten in Leichter Sprache beschrieben werden sollten, finden sich in § 4 BITV 2.0. Es ist jedoch zu beachten, dass es auf Länderebene abweichende gesetzliche Regelungen geben kann. In Sachsen ist bspw. die Bereitstellung von Informationen in Leichter Sprache entsprechend § 2 Absatz 2 Satz 2 BfWebG nur eine Empfehlung. 

Das Besondere an „Leichter Sprache“ ist die Herausforderung, komplexe Inhalte so zu vereinfachen, dass sie für Menschen mit Lernschwierigkeiten oder kognitiven Beeinträchtigungen leicht verständlich sind, ohne dass dabei wesentliche Informationen verloren gehen. Es gibt ein festes Regelwerk für Grammatik, Satzbau und Gestaltung. Daher sollte bei der Erstellung von Texten in Leichter Sprache vorzugsweise mit Fachleuten aus entsprechenden Übersetzungsbüros zusammengearbeitet werden. 

WIRTSCHAFT ONLINE: Ab 2025 ist auch die Verlagsbranche zur Barrierefreiheit verpflichtet. Was bedeutet das konkret? 

Ulla Materne: Ab dem 28.6.2025 müssen gemäß BSFG E-Books, E-Reader, aber auch Webshops barrierefrei gestaltet sein. Inhalte sind dann so zu erstellen, dass sie von assistiven Technologien Screenreadern oder Braille-Zeilen, ohne Abstriche ausgegeben werden können. Ähnlich wie bei Webseiten ergeben sich aus dem EAA bestimmte Anforderungen an die digitale Barrierefreiheit, die im Hinblick auf 2025 durch die Verlagsbranche umgesetzt werden müssen. 

WIRTSCHAFT ONLINE: Können Sie uns bitte etwas zu Ihren kostenfreien Leitfäden sagen? 

Ulla Materne: Die Leitfäden zu barrierefreien EPUBS, PDFs und Webseiten wurden durch die Taskforce Barrierefreiheit im Börsenverein des deutschen Buchhandels erarbeitet. Im Dezember 2020 gründete der Börsenverein gemeinsam mit dem dzb lesen diese Expertengruppe, um die Buchbranche bei der Umsetzung der Anforderungen an die Barrierefreiheit zu unterstützen. Die Handreichungen, die auf der Webseite des Börsenvereins veröffentlicht sind, stellen übersichtlich und in Kürze dar, wie barrierefreie Inhalte produziert werden können. 

WIRTSCHAFT ONLINE: Welche Angebote können denn betroffene Unternehmen noch nutzen? 

Ulla Materne: Neben den Leitfäden findet sich auf der Seite des Börsenvereins eine umfangreiche FAQ-Sammlung zum BSFG, die einen sehr guten Einstieg in dieses Thema ermöglicht. Je nach Bedarf werden darüber hinaus Beratungen und Schulungen (etwa Webinare) organisiert und durchgeführt. Gern genutzt wurden in den vergangenen Jahren auch die Sprechstunden zur digitalen Barrierefreiheit auf der Leipziger Buchmesse, die der Börsenverein mit dem dzb lesen organisierte. 

WIRTSCHAFT ONLINE: Welche Sanktionen werden denn bei Nichterfüllung in die Wege geleitet? 

Sabine Krüger: Die Sanktionen bei Nichteinhaltung der gesetzlichen Vorschriften unterscheiden sich in ihrer Art und Weise im BfWebG und dem BFSG. Öffentliche Stellen müssen mit regelmäßigen Wiederholungsprüfungen durch die Überwachungsstelle rechnen; auch werden die Ergebnisse der Überwachungsprüfungen alle drei Jahre im Landesbericht und im EU-Bericht veröffentlicht. Personen, die Barrieren auf Webseiten öffentlicher Stellen feststellen und keine zufriedenstellende Antwort erhalten, können kostenlos und ohne Rechtsbeistand bei der zuständigen Durchsetzungsstelle einen Antrag auf Einleitung eines Schlichtungsverfahrens stellen. Theoretisch sind auch Klagen von Betroffenen oder Verbänden denkbar. 

Bei Verstößen gegen das BFSG können Marktüberwachungsbehörden die Bereitstellung von Produkten oder Dienstleistungen einschränken oder untersagen, Rücknahmen oder Rückrufe anordnen. Bußgelder bis zu 100.000 Euro sind möglich. Verbraucher und Verbände können bei der zuständigen Landesbehörde für Marktüberwachung Beschwerden einreichen oder ein Schlichtungsverfahren beantragen. 

Deutsches Zentrum für barrierefreies Lesen: 

www.dzblesen.de 

FAQ zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz für Unternehmen

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