Anderswo freut man sich eigenartigerweise mehr auf die Zukunft
12. Februar 2024Im Getriebe des gesellschaftlichen Transformationsprozesses knirscht es hörbar. Kai Gondlach, engagierter Zukunftsforscher (unter anderem bei der World Future Studies Federation), kommentiert im Gespräch mit WIRTSCHAFT ONLINE Trends und Fakten und zeigt auf, wo nachjustiert werden muss, um eine gesunde Wirtschaft der Zukunft aufzubauen. Große Hoffnungen legt er dabei auf Familienunternehmen, da diese eine generationenübergreifende Sicht quasi in ihrer DNA haben. Wir fragten ihn nach der Zukunft der Arbeitswelt, Chancen für Unternehmen, positive Herangehensweisen beim Blick ins Morgen, KI, Kreislaufwirtschaft und den gesellschaftlichen Diskurs.
WIRTSCHAFT ONLINE: Guten Tag, Herr Gondlach. Sie haben mehrere Bücher geschrieben, so etwa zur Arbeitswelt der Zukunft in Verbindung mit KI. Auch als Speaker sind Sie gern gesehen auf Kongressen und Tagungen. Selbst sagen Sie, Sie wären Futurist. Was ist denn ein Futurist?
Kai Gondlach: Ich gehöre zu den Menschen, die nicht nur gern, sondern auch professionell über Zukunft oder vielmehr: Zukünfte nachdenken. Das tun wir auf Basis der wissenschaftlichen Zukunftsforschung mithilfe von Methoden vor allem aus dem sozialwissenschaftlichen Bereich. Wenn es um die Darstellung möglicher und plausibler Szenarien geht, gehört aber auch Kreativität dazu – schließlich möchten wir Menschen dazu inspirieren, Zukunft nicht als etwas Feststehendes, Schicksalhaftes zu betrachten. Schließlich basiert das Ganze auf einem stabilen, internationalen Expertennetzwerk, das ist bei uns nicht weniger wichtig als in der regionalen Wirtschaft.
WIRTSCHAFT ONLINE: Zukünfte aus derzeitigen Trends und Nachrichten herauszufolgern, scheint mir bei dem Überangebot an Informationen äußerst schwierig. Wie sortieren Sie für sich selbst Informationen?
Kai Gondlach: Die wichtigste Fähigkeit für Zukunftsforschende ist definitiv das Filtern. Oder wie Sokrates gesagt haben soll: „Wenn du etwas weitersagen willst, so seihe es zuvor durch drei Siebe: Das Erste lässt nur das Wahre hindurch, das Zweite lässt nur das Gute hindurch, und das Dritte lässt nur das Notwendigste hindurch. Was durch alle drei Siebe hindurchging, das magst du weitersagen.“
Es wäre töricht, anzunehmen, jemand könne die Zukunft vorhersagen. Doch wir können die strategischen Entscheidungsgrundlagen mit Zahlen, Daten, Fakten und qualitativen Einschätzungen von Expertinnen und Experten durchaus besser fundieren – zusätzlich machen wir auf mögliche Gefahren aufmerksam. Die Pandemie haben wir beispielsweise 2019 im Zeitraum von drei Jahren „angekündigt“, den Krieg in der Ukraine habe ich in meinem Podcast im Herbst 2021 thematisiert, also ein halbes Jahr vor dessen Beginn. Wer solche Informationen ernst nimmt und strategische Handlungsoptionen seriös durchgeht, hat somit einen Vorteil im Casus Belli.
WIRTSCHAFT ONLINE: In welche Richtung steuert denn die Arbeitswelt und wie können sich Unternehmen darauf vorbereiten, bestenfalls mitgestalten?
Kai Gondlach: Durch die demografische Entwicklung und eine weiter zunehmende Individualisierung gehen wir fest davon aus, dass besonders größere Unternehmen in Schwierigkeiten geraten werden, da sie schlicht zu träge für eine agile Transformation sind – die wäre aber nötig angesichts der aktuellen und erwartbaren Disruptionen der kommenden Jahre. Das heißt nicht, dass große Unternehmen vom Markt verschwinden, aber es setzt sie schon seit Jahren unter massiven Druck, wir sehen das an den Stellenstreichungen und Streiks der Gegenwart. Allerdings helfen Buzzwords wie Employer Branding, Generation Alpha oder New Work den Entscheidungsträgern kaum weiter. Während auf der strategischen Seite eine Abkehr von Bauchgefühl-Entscheidungen und privaten Seilschaften dringend nötig ist, geht’s bei den Personalabteilungen deutlich stärker in eine Dezentralisierung und mehr Bauchgefühl in den kleineren Abteilungen und Teams. Inzwischen ist die Durchschnittsbildung der Arbeitnehmer gegenüber dem letzten Jahrhundert deutlich gestiegen, was auch bedeutet, dass verantwortungsvolles und eigenständiges Denken und Handeln bei den meisten zum Alltag gehört. Dem müssen Arbeitgeber in vielen Bereichen unbedingt Rechnung tragen und ihre Beschäftigten nicht wie kleine Kinder behandeln, die vorgeschriebene Funktionsbeschreibungen abzuarbeiten haben.
WIRTSCHAFT ONLINE: KI ist unbenommen Thema im Diskurs. Nun wissen die Wenigsten, was KI in Zukunft überhaupt in der Lage ist zu leisten. Sie sind hier Experte. In welchen Strukturen wird KI in den nächsten Jahren und Jahrzehnten wie Einfluss gewinnen?
Kai Gondlach: Die Frage müsste eher heißen: in welchen nicht? Es gibt kaum Bereiche, in denen KI – ähnlich wie Elektrizität – keine Vorteile zum Tragen bringen kann und wird. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass wir ausreichend nachhaltige Energiequellen erschließen, aber das ist ein anderes Thema. Die Kehrseite ist außerdem, dass alle Unternehmen, die sich nicht um KI-Einsatz kümmern, abgehängt werden, vorsichtig ausgedrückt.
Ganz wichtig: KI ist nicht intelligent, wird kein Bewusstsein erlangen, das ist und bleibt Science-Fiction. Aber KI kann dabei helfen, sämtliche sich wiederholende oder Mustern folgende Prozesse zu automatisieren. Das gilt für körperlich anspruchsvolle Tätigkeiten in der Industrie oder Pflege über kognitive Meisterleistungen in Büro und Wissenschaft bis hin zu massenhaft anfallenden Aufgaben wie der optischen oder akustischen Fehlererkennung bei großen Maschinen. Dabei dürfen wir aber nie vergessen, dass das Silicon Valley oder andere Innovations-Hotspots der Welt kein Monopol auf die beteiligten Technologien festigen dürfen. Viele bahnbrechende Entwicklungen stammen ursprünglich aus Deutschland und ja, auch kleine und mittlere Unternehmen können schon heute ganz konkret produktiv von KI profitieren.
Für die Beschäftigten heißt das aber auch: Wir alle benötigen eine Grundbildung über KI. Denn auch im Privatbereich spielt KI schon heute und in Zukunft noch mehr eine leider oft kriminelle Rolle – gesteuert von findigen Betrügern. KI ist insofern wie jedes andere technische Artefakt auch zum guten wie zum schlechten Gebrauch geeignet.
WIRTSCHAFT ONLINE: Die Zukunft unseres Wirtschafts- und damit auch Gesellschaftssystems steht und fällt mit dem Diskurs zum Thema Nachhaltigkeit. Ist denn Nachhaltigkeit überhaupt resolut möglich? Wie können Entscheidungen in einer so zerfurchten und zerstrittenen Welt, die sich derzeit hauptsächlich im Gegeneinander ergießt, wirklich nachhaltig für alle gestaltet werden?
Kai Gondlach: Momentan kann man durchaus Zweifel anmelden, da stimme ich Ihnen zu. Dabei sind die meisten „nachhaltigen“ Lösungen längst technisch verfügbar; allein der Markt regelt wie gewohnt zu langsam, um es aktuell wahrnehmen zu können. Der erste große Schritt, die Reduktion der Treibhausemissionen, ist allerdings mit den Entwicklungen im Energiesektor in erreichbare Nähe gerückt. Der Zweite, die energetische Sanierung von Bestandsimmobilien bei gleichzeitiger Reduktion der Neubauten bzw. Flächenversiegelung, wird ein dickeres Brett. Der dritte Schritt wiederum, die Erhöhung des CO₂-Preises pro Emissionstonne, schmerzt aktuell sehr, ist aber ein zentrales Werkzeug, um mittelfristig auf einen regenerativen Pfad zu kommen. In spätestens zehn Jahren wird es aus wirtschaftlichen Motiven überhaupt keine Option mehr sein, fossile Ressourcen für industrielle Prozesse den regenerativen Wegen vorzuziehen. Nur so erreichen wir eine Kreislaufwirtschaft nach dem cradle-to-cradle-Prinzip, in dem unter anderem Hersteller von Waren oder Maschinen für deren Entsorgung aufkommen müssen. Es wäre schön, wenn entlang dieser teils gravierenden Transformationen der gesellschaftliche Zusammenhalt neu entstehen würde – immerhin geht es hier um nicht weniger als eine lebenswerte Welt für unsere Nachkommen.
WIRTSCHAFT ONLINE: Jedes System hält nur so lange, wie die Zahl der Systemverlierer minimiert wird. Wie kann die regionale Wirtschaft hier mittun, ohne selbst zum Systemverlierer zu werden?
Kai Gondlach: Spannende Perspektive, schließlich hat das uns bzw. unsere Vorfahren über Jahrhunderte nicht interessiert. Das aktuelle Wirtschaftssystem im „globalen Norden“ funktioniert nur dank der Ausbeutung anderer Wirtschaftsregionen. Nun, da es auch Teilen unserer Gesellschaft perspektivisch und in Relation eher schlechter geht und Wenige an der Spitze der Vermögenspyramide profitieren, kommen wir langsam ins Grübeln. Die regionale Wirtschaft ist ein wichtiges Fundament für unsere Gesellschaft, keine Frage, doch viele der Probleme, mit denen sie heute konfrontiert ist, haben sich über Jahrzehnte angebahnt.
Stichwort demografischer Wandel: Es ist keine Überraschung, dass jetzt so viele Menschen in Rente gehen und weniger nachkommen. Die Prognosen aus dem letzten Jahrhundert sind ziemlich stabil.
Stichwort Digitalisierung: Dass die Einführung von KI in vielen Unternehmen jetzt so schwerfällt, liegt auch an den Versäumnissen in Politik und Wirtschaft zur grundlegenden Digitalisierung.
Stichwort Energiepreise: Auch diese Entwicklung hat sich lange angebahnt, die Abhängigkeit von wenigen Energielieferanten hätte auf Bundesebene kein Unternehmer mit gesundem Menschenverstand so zugelassen; der Ausbau erneuerbarer Energiequellen inklusive „grünem Wasserstoff“ wiederum ist seit gut 15 Jahren klare Ansage, etc.
Was also kann die regionale Wirtschaft tun? Den Blick aufs große Ganze schärfen, das Kerngeschäft trotzdem nicht aus den Augen verlieren und dabei den Zukunftsmuskel aktivieren, um nicht nur Entscheidungen fürs nächste oder übernächste Jahr zu treffen. Hier habe ich große Hoffnung in Familienunternehmen, denen der Generationenblick buchstäblich in der DNS steckt.
WIRTSCHAFT ONLINE: In Ihren Vorträgen plädieren Sie für ein vorausschauendes und strategisches Agieren, was wiederum bedeutet, dass Vorausschauen auch planbar und verlässlich sein muss, sonst ist es nur ein Stochern im Nebel. Heißt also, es braucht beide Seiten. Wie viel politischer Wille ist denn überhaupt da, um verlässliche Rahmenbedingungen zu schaffen, damit nachhaltig agiert werden kann, aus Ihrer Sicht gesehen?
Kai Gondlach: Es ist ein ewiges Hin und Her. Die aktuelle gesellschaftliche Stimmung kippt allerdings schon bei kleinsten Weganpassungen, Populisten feiern leider gerade ein nerviges Comeback. Mit Blick auf zahlreiche Wahlen auf kommunaler, Landes- und internationaler Ebene herrscht hier zudem viel Unsicherheit in den Unternehmen. Langfristig geht aber kein Weg an den vielfältigen Wenden: Energie-, Mobilitäts-, Bauwende etc. vorbei. Das wissen auch die Ministerinnen und Minister. Viele Unternehmen und auch Verbände positionieren sich zunehmend nachhaltiger, wobei noch viel Greenwashing betrieben wird. Aber es wird besser. Langsam, aber stetig.
WIRTSCHAFT ONLINE: Sie engagieren sich im Netzwerk Zukunftsforschung sowie in der World Future Studies Federation. Was sind dies denn für Strukturen und was machen Sie dort?
Kai Gondlach: Das Netzwerk Zukunftsforschung ist der deutschsprachige Verband für akademische Zukunftsforschung, die WFSF das internationale Pendant. Hier geht es vor allem um die Weiterentwicklung von Methoden, die Stärkung der wissenschaftlichen Basis und natürlich klassische Gremienarbeit. Hinzu kommt ein einzigartiger Fundus an Trendbeobachtungen aus aller Welt, denn anderswo freut man sich eigenartigerweise mehr auf die Zukunft. Vielleicht können wir uns auch hier in der Region eine Scheibe davon abschneiden und vor allem nicht nur träumen, sondern auch riskante und im besten Fall lohnende Sprünge machen.
WIRTSCHAFT ONLINE: Danke, Herr Gondlach, für Ihre Zeit und Ihre Sicht auf die Zukunft.
Kai Gondlach: Ich habe zu danken!