WIRTSCHAFT Digital

WIRTSCHAFT: Gerade auch im Handel sehen wir ja derzeit eine Tendenz zu Märkten ohne Kassenpersonal. Das wird jedoch nicht flächendeckend kommen. Ich selbst möchte auch mit Menschen kommunizieren. Wie weit geht Unpersönlichkeit? Gerade, wenn alles dem Kostendruck unterworfen wird … Kai Gondlach: Nichts funktioniert universell. Stationärer Handel hat aber nicht erst seit Corona oder dem flächendeckenden Einsatz von KI ein Problem, sondern seit Amazon, Zalando, Temu und Co. Darauf fehlen noch immer originelle Antworten, die in der Breite funktionieren, siehe Galeria Kaufhof und andere. Ein einzigartiges Boutique-Konzept ist schön, bringt aber nichts, wenn die Kundschaft nicht systematisch erfasst und mit Aftersales-Angeboten zurück ins Geschäft und den eigenen Onlineshop gelockt wird. Der Kostendruck wird weiter steigen, daher brauche ich als Händler dringend Ideen für die Weiterentwicklung meines Geschäftsmodells. Das muss auch nicht immer teuer sein, im Gegenteil. WIRTSCHAFT: Mit welchen Strategien können Unternehmen jetzt schon Krisen von Übermorgen vorbeugen? Was sollte bedacht werden? Kai Gondlach: Jedes Unternehmen benötigt auch Foresight-Knowhow, also die Fähigkeit der strategischen Vorausschau. Wenn ich mich gut mit Trends auskenne und regelmäßig in Szenarien für mein Unternehmen denke, lassen sich daraus gute Ableitungen für die eigene Strategie, aber auch die Kostenstruktur oder Lieferantenverträge treffen. Dazu brauche ich dann noch Personal, das „Das Bildungssystem und die Einstellung gegenüber Bildung sind hierzulande katastrophal.“ kontinuierlich nach schwachen Signalen für mögliche Risiken und Chancen Ausschau hält und die bekannten systematisch beobachtet. Das erhöht erstens die generelle Resilienz der Beschäftigten und der Organisation – selbst wenn dann mal ein Desaster ins Haus steht, mit dem doch niemand gerechnet hat. Zweitens erhöht es nachweislich die Profitabilität und den Marktwert. Drittens kümmere ich mich sehr frühzeitig um strategische Eckpfeiler der Zukunft, beispielsweise die Vereinbarkeit von ökologischen und sozialen Entwicklungszielen mit einem profitablen Geschäft, und habe später weniger Aufräumarbeit. WIRTSCHAFT: Ein großes Thema ist die Bildung. Hat die nachwachsende Generation aufgrund der Bildung in Deutschland Chancen in der neuen Arbeitswelt? Kai Gondlach: Das Bildungssystem und die Einstellung gegenüber Bildung sind hierzulande katastrophal. Immer mehr Menschen haben zu Recht das Gefühl, dass weder Schule noch Hochschule und Universitäten einen lebenspraktischen Nutzen für sie haben. Das System hat sich zu lange losgelöst von der Realität entwickelt, sodass zwar die Inhalte der meisten Lehrpläne auf einem einigermaßen aktuellen Stand sind, aber nicht die Kompetenzprofile. Es bringt mir genau gar nichts, wenn ich Desoxyribonukleinsäure fehlerfrei schreiben kann, aber im Berufsleben nichts mit Biologie oder Lektorat zu tun habe. Die Kids lernen nur mit Glück im Gen-Lotto etwas über Wirtschaft, Politik oder den Sinn des Lebens (42). Arbeitgeber beschweren sich zunehmend, dass viele Jobeinsteigende nach der Ausbildung oder dem Studium selbst bei grundlegenden Fähigkeiten ausfallen und trotzdem gern weniger arbeiten möchten zu höheren Löhnen. Und da haben wir noch nicht über die Abwanderung hochqualifizierter Fachkräfte, besonders in den Schlüsselindustrien, gesprochen. WIRTSCHAFT: Auch wenn sich KI bereits in vielen Start-up-Unternehmen durchgesetzt hat, haben sich nicht alle mit moralischen und ethischen Überlegungen rund um die Themen Überwachung und Datenschutz auseinandergesetzt. Ist KI aus Ihrer Sicht überhaupt regelbar? Kai Gondlach: Die Frage ist fast so komplex wie die Frage, ob man ein durchweg faires Rechtssystem für Menschen entwerfen kann. Der EU AI Act, die erste umfassende Regulatorik für KI, wurde Anfang des Jahres vom EU-Parlament verabschiedet; wir werden sehen, Kai Gondlach blickt in Zukünfte und hat Ideen 7 Das große Interview IHK zu Leipzig Magazin „Wirtschaft“ Ausgabe Sommer 2024

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